Tag 12: An welchem ich die Schönheit der Mathematik entdecke.

oder: Ich hätte gerne mit euch im Schnee gespielt, aber ich muss Mathe machen.

„Weißt du, was hinter der Mathematik steckt? Hinter der Mathematik stecken die Zahlen. Wenn mich jemand fragen würde, was mich richtig glücklich macht, dann würde ich antworten: die Zahlen. Schnee und Eis und Zahlen. Und weißt du warum?

Weil das Zahlensystem wie das Menschenleben ist. Zu Anfang hat man die natürlichen Zahlen. Das sind die ganzen und positiven. Die Zahlen des Kindes. Doch das menschliche Bewusstsein expandiert. Das Kind entdeckt die Sehnsucht, und weißt du, was der mathematische Ausdruck für die Sehnsucht ist?

Es sind die negativen Zahlen. Die Formalisierung des Gefühls, dass einem etwas abgeht. Und das Bewusstsein erweitert sich immer noch und wächst, das Kind entdeckt Zwischenräume. Zwischen den Steinen, den Moosen auf den Steinen, zwischen den Menschen. Und zwischen den Zahlen. Und weißt du, wohin das führt? Zu den Brüchen. Die ganzen Zahlen plus die Brüche ergeben die rationalen Zahlen. Aber das Bewusstsein macht dort nicht halt. Es will die Vernunft überschreiten. Es fügt eine so absurde Operation wie das Wurzelziehen hinzu. Und erhält die irrationalen Zahlen.

Es ist ein Wahnsinn. Denn die irrationalen Zahlen sind endlos. Man kann sie nicht schreiben. Sie zwingen das Bewusstsein ins Grenzenlose hinaus. Und wenn man die irrationalen Zahlen mit den rationalen Zahlen zusammenlegt, hat man die reellen Zahlen.

Es hört nicht auf. Es hört nie auf. Denn jetzt gleich, auf der Stelle, erweitern wir die reellen Zahlen um die imaginären, um die Quadratwurzeln der negativen Zahlen. Das sind Zahlen, die wir uns nicht vorstellen können. Zahlen, die das Normalbewusstsein nicht fassen kann. Und wenn wir die imaginären Zahlen zu den reellen Zahlen dazurechnen, haben wir das komplexe Zahlensystem. Das erste Zahlensystem, das eine erschöpfende Darstellung der Eiskristallbildung ermöglicht. Es ist wie eine große, offene Landschaft. Die Horizonte. Man zieht ihnen entgegen, und sie ziehen sich immer wieder zurück. Das ist Grönland, und das ist es, ohne das ich nicht sein kann! Deshalb will ich mich nicht einsperren lassen.“

Aus: Peter Hoeg: Fräulein Smillas Gespür für Schnee

12. Buchfrage: Ein Buch, welches dir von jemandem empfohlen wurde.

Mit dem Zitat oben hat unsere Mathelehrerin in der 8./9. Klasse uns die verschiedenen Mengenbezeichnungen und deren Beziehungen untereinander in der Mathematik näher gebracht. Für mich Empfehlung genug, „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ zu lesen – was ich auch mit großem Genuss getan habe. Keine Angst, es geht recht wenig um Mathe, auch wenn das Zitat anderes vermuten lässt. In der Hauptsache ist die Geschichte ein Kriminalfall um den Tod eines kleinen Jungen und die widerspenstige, aber liebenswerte Smilla, die vermutet, dass er ermordet wurde, und das beweisen möchte.

2 Antworten auf „Tag 12: An welchem ich die Schönheit der Mathematik entdecke.

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  1. Ich finde das die wohl schönste und anrührendste Erklärung der mathematischen Zahlenräume, die ich je gehört/gelesen habe!

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