Warum ich gegen eine Helmpflicht bin

tldr: Ich bin gegen eine Helmpflicht, weil meiner Meinung nach Helme nur Symptome behandeln, statt Ursachen zu bekämpfen.

Der Bundesgerichtshof hat vor Kurzem ein Gerichtsurteil des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts korrigiert, in dem es um das Tragen von Radhelmen ging.

Kurzzusammenfassung des Sachverhalts: Eine Frau fuhr gegen eine plötzlich geöffnete Autotür und hatte einen Unfall mit schweren Kopfverletzungen. Ihre Versicherung verweigerte die Übernahme von 50% der Kosten, da „vernünftige Menschen“ (sic!) einen Helm trügen. Das Gericht reduzierte die Übernahme auf 20%, da sie durch das Tragen eines Helms die Schwere der Verletzungen habe mindern können und somit Mitschuld an den Verletzungen trage.

Der Bundesgerichtshof wies dieses Urteil zurück; der Autofahrer muss 100% der Kosten übernehmen.

Ich begrüße dieses Urteil grundsätzlich. Es weist die Dreistigkeit der Versicherung in die Schranken, und rückt die moralische Bewertung des Geschehens gerade.

Um Eines vorwegzustellen: Aus einer rein gesundheitlichen Sicht finde ich Fahrradhelme sehr, sehr sinnvoll. Wertvolle Dinge packt man gut ein, und dazu zähle ich meinen Kopf auch.

Dieses Urteil ist aber in einem viel größeren Zusammenhang sehr, sehr wichtig, und der betrifft nicht nur Fahrradfahrer¹.
Schauen wir uns den Unfallhergang an. Eine Radfahrerin fährt an einem parkenden Auto vorbei; der Fahrer öffnet in diesem Moment die Tür, es kommt zum Unfall.
Die Ursache (Autotür öffnen) sorgt für die Wirkung (Unfall) – mit den Verletzungen als Folge.
Das holsteinische Urteil hätte eine (20%ige) Umkehrung dieses Sachverhalts zur Folge gehabt – denn wenn die Radfahrerin eine Teilschuld bekommt, weil sie keinen Fahrradhelm trägt, heißt das, man kann sie teilweise für den Unfall verantwortlich machen – und das ist falsch.
Sie hat sich nichts zuschulden kommen lassen, und unter Normalbedingungen braucht man keinen Helm, genauso wenig wie Fußgänger oder Autofahrer selber auch.

Der Helm ist eine reine Vorsichtsmaßnahme für den Fall einer Ausnahmesituation – und jeder Unfall sollte eine Ausnahmesituation sein. Es sollte daher auch in der eigenen Verantwortung des Radfahrers liegen, ob er das Risiko eingeht, ohne Helm zu fahren, oder nicht.

Meine Schwester hatte vor Jahren einen furchtbaren Unfall, und ich bin sehr froh, dass sie einen Helm getragen hat, auch wenn der in dem Fall nicht viel gebracht hat.

Und nach wie vor behandeln Helme nur die aus einem Unfall entstehenden Folgen, die eigentliche Ursache, den Unfall selber, können sie nicht verhindern. Im Gegenteil, eine Studie kommt zu dem Schluss, dass Helmträger gefährdeter sind als andere, eben weil sie ja gut geschützt seien. Das ist ein einfacher psychologischer Effekt: der Autofahrer kann draufhalten – der Radfahrer hat ja einen Helm – der Radfahrer kann rücksichtsloser fahren – er hat ja einen Helm.

Einen ähnlichen Effekt gab es bei der Einführung des Airbags auch – der sich übrigens durchgesetzt hat, weil die Kunden ihn wollten, nicht, weil er gesetzlich vorgeschrieben wurde.

Als ich 1999 in Neuseeland war, habe ich mich auch über die dortige Helmpflicht unterhalten, und warum die Helmpflicht zu noch größeren Unfallzahlen führte, als vorher.
Mein Gesprächspartner – ein 50-jähriger begeisterter Autofahrer – meinte, Helme seien wie „Die Ambulanz am Fuß des Berges, statt der Zaun oben“ und sprach damit ebenfalls auf das Ursache-Wirkungs-Prinzip an. Neuseeland hatte sich lediglich darauf beschränkt, Helme vorzuschreiben, anstatt verkehrspolitisch irgendwelche fundierteren Konsequenzen zu ziehen. 1999 gab es dort kaum Radwege, und ich schätze, daran hat sich nicht viel geändert.

Kein Unfall wird durch einen Fahrradhelm verhindert. Es werden lediglich die Folgen abgemildert.

So sterben die meisten Radfahrer in Berlin (und vermutlich auch sonstwo) durch rechtsabbiegende Autos. Hier bringt ein Schulterblick viel, viel mehr, als jeder Helm.
Ich kann mich jedenfalls sehr gut an meinen Fahrlehrer erinnern, der eine Vollbremsung machte, als ich beim Rechtsabbiegen jemandem die Vorfahrt nehmen wollte. Hand aufs Herz: Welcher Autofahrer macht denn noch einen Schulterblick? Wer hat nicht beim Anblick eines Radfahrers gedacht: „Ich fahre vor dem, der ist schwächer, der wird schon bremsen.“?

Das zweite große Problem sind Radfahrer, die bei rot über Ampeln fahren – das ist genau so dumm und unverantwortlich, wie betrunken Auto fahren.

Unfälle verhindern kann man nur mit intelligenter Verkehrspolitik, mit Sensibilisierung aller Beteiligten, und mit gegenseitiger Rücksichtnahme, und da kann jede/r etwas tun. Ich verhalte mich sowohl als Fußgänger, als Radfahrer, als Autofahrer ab und zu aggressiv und rücksichtslos, und ich kenne niemanden, der oder die sich immer zu 100% korrekt verhält – das verlange ich auch nicht.

Aber ein bisschen Rücksicht – Schulterblick, nicht jede Abkürzung nehmen, die geht, Handzeichen – und Entspannung sind nicht nur gut für den Blutdruck, sondern verhindern meiner Meinung nach jede Menge Unfälle.

Damit aber entspanntes Fahren möglich ist, braucht es gute Infrastrukur. Selbst in Berlin mit seinen breiten Straßen und seinem gut ausgebauten Radwegenetz entstehen unnötige Konflikte dadurch, dass Radwege mitten auf der Straße enden, scheinbar willkürlich zwischen Straße und Randstreifen wechseln und völlig bescheuert an Bushaltestellen entlangführen – nämlich so, dass die ein- und aussteigenden Gäste voll über den Weg laufen.

Es gibt in Holland (mindestens) 11 verschiedene Entwürfe für intelligente Radwegführung an Kreuzungen und Bushaltestellen.

Dass der deutschen Verkehrspolitik nichts weiter einfällt, als Radfahrer und ihre Bedürfnisse konsequent zu ignorieren, ist beschämend.

Der ADFC zum Thema Helmpflicht

Helm? Ja! Zwang? Nein! (Der Freitag)

¹ übrigens bin ich auch Fußgänger und begeisterter Autofahrer

 

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