„Junge, bist du denn am Sonntach auch dabei?“
„Jo.“
Meine Oma hatte uns zum Geburtstag eingeladen, und mit ein paar freien Tagen und großer Radreiselust beschloss ich, doch mal mit dem Rad von Berlin zur Familie zu fahren – irgendwo zwischen Bremen und Bremerhaven, rund 400 Kilometer. Seit ein Freund vor ein paar Jahren die entgegengesetzte Strecke hinter sich gebracht hatte, um mich zu besuchen, schwirrte dieser Plan lose im Kopf herum – meistens aus Zeitmangel beziehungsweise dem Vorhaben, möglichst viel Zeit mit der Familie und möglichst wenig Zeit mit dem Da-Hin-Kommen zu verbringen, nicht näher verfolgt.
Nun aber war ich am Donnerstag morgens abfahrbereit. Ich chattete noch kurz mit einer Freundin: „Wann willst du eigentlich los?“ – „Wenn ich das Müsli aufgegessen habe.“ – „Gute Antwort, so logisch.“, und sattelte dann auf.
Meiner Streckenplanung folgend würde ich Berlin über Spandau verlassen, dann entlang der Havel und der Elbe zur Lüneburger Heide fahren, und von dort ist es dann nur noch ein HammelKatzensprung nach Hause. Knapp 400 Kilometer, für mich also in zweieinhalb Tagen gut machbar. Ein wenig Sorgen bereiteten mir die vorhergesagten Gewitter, doch es war eher das Gegenteil der Fall: Temperaturen jenseits der 30° und drückende Schwüle machten mir ein bisschen zu schaffen – und auch meine Streckenplanung, die ich schön entlang der Spree gelegt hatte – und nun muss ich mit vollem Gepäck Treppen steigen, weil die Promenade nicht überall barrierefrei zugänglich ist. Das muss ich mal besser nachplanen. Nach der Spree kommt der Spandauer Damm, der gefühlt Ewigkeiten lang ist – und endlich, nach 35 Kilometern geht es das erste Mal in den Wald. Und wie es in den Wald geht, einige Abschnitte sind sehr – rustikal.

Nun ja. Ich wollte es ja gerne über Stock und Stein haben. Ziel erfüllt, würde ich sagen. Den weitaus größten Teil der ganzen Tour bin ich aber über asphaltierte Radwege neben Landstraßen unterwegs gewesen, und das lässt sich ziemlich gut fahren.
Wenn denn die Reifen halten. Nach 50 Kilometern habe ich vorne plötzlich eine sehr weich eingestellte Federung; zum ersten Mal seit zwei Jahren ein Plattfuß. Ärgerlich ist nicht das Flicken, bzw. den Schlauch zu wechseln, sondern dass der Anschluss für den Dynamo etwas fummelig ist und ich auch schon mal eine Dreiviertelstunde fluchender Weise versucht habe, die Kontakte wiederherzustellen. Dieses Mal hatte ich fast auf Anhieb Glück.
Es war schon recht spät am Nachmittag, als ich durch Ribbeck im Havelland fuhr, ein beinah mythischer Ort, nachdem ich das Gedicht in der Schule auswendig lernen musste. Es ist zu lang, um es hier wiederzugeben, deswegen kann man es hier lesen.
Am Abend wäre ich dann gerne noch ein bisschen weiter gefahren als die 125 Kilometer, die ich geschafft habe. Doch eine Baustelle versperrte den Weg, und um die Havel zu überqueren, musste ich ein Stück zurück in die schöne Stadt Haselberg, deren Altstadt auf einer Insel in der Havel gelegen ist. Der schöne Campingplatz, der von einem sehr netten jungen Paar geführt wird, liegt ebenfalls auf einer Insel. Ein Alster zum Abschluss und eine Dusche waren alles, was ich zur Glückseligkeit brauchte. Und die Moskitonetze im Zelt…
Baustelle bleibt Baustelle und Brauhaus bleibt Brauhaus
Am nächsten Morgen versprach mir eine in Gegenrichtung fahrende Radlerin, ich würde keinen Gegenwind haben, sie hätte ja schließlich tags zuvor genug davon gehabt. Pustekuchen. Haha, Puste…
In der Tat war der Wind bei Weitem nicht so stark wie auf dem Weg nach Schwerin, aber da der Weg viel auf dem Elbedeich verläuft – mit grandioser Aussicht – ist eben auch ein laues Lüftchen zu spüren. Aber das stört mich nicht weiter, und so spule ich Kilometer um Kilometer ab. Viel auf dem Deich, ab und an Landstraße oder querfeldein; zwei Baustellen zwingen mich zu Umwegen. Es ist nicht ganz so heiß wie gestern, was mir sehr entgegen kommt.
Am frühen Nachmittag bin ich dann in Wittenberge – mein gestriges inoffizielles Tagesziel – und komme direkt an der alten Ölmühle vorbei. Dort gibt es ein Brauhaus samt Restaurant, und so verbringe ich dort knapp anderthalb Stunden – unter anderem auch, weil ich mit einigen Mitarbeitern und der Geschäftsführung ins Gespräch komme. Es gibt auf dem Gelände einen Kletterturm und ein Tauchbecken, die ich beide besichtigen darf – was ich natürlich gern tue.
Nach einer Gemüse-Kartoffel-Pfanne geht es mit Volldampf weiter, ich hab heute schließlich noch einiges vor. Mir fallen eine ganze Menge Gerüche als sehr intensiv auf, deswegen hier eine kurze Liste:
Stadtmief, Abgase, Sonnencreme, Schweiß, Laubwald, Nadewald(stehend), Nadelwald(gefällt und gestapelt), Gräser, Getreide(stehend), Getreide(gemäht werdend), Stroh, Gras(Wiese), Gras(gemäht werdend), Gras(trocknend), Heu, Erde(trocken), Erde(feucht), Mais(stehend), Bier, Gewürze(aller Art), Wasser(frisch), Wasser(brackig), Gummi(Fahrradschlauch), Bäckerei, Gülle, Jauche, Mist, Kühe(auf der Wiese), Kühe(im Stall), Schweinestall, Pferde, Schafe, Pommes, Frittenfett(alt), Regen(vorher, nachher, währenddessen), Rasen(gemäht werdend), Müsliriegel, Haferkekse, Heide, Regenklamotten(klamm), usw. Ich denke kurz drüber nach, die Reise anhand des jeweils vorherrschenden Geruchs zu beschreiben, aber das wäre ganz schön anstrengend.
Anstrengend ist auch die Fahrt. Nach etwa 75 bis 80 Kilometern kommt immer der „80-Kilometer-Blues“, der so 10 Kilometer anhält – das Sitzen wird anstrengend, Kleinigkeiten nerven, die Kilometer wollen nicht mehr werden, man hat schon so viel geschafft, aber da kommt noch ein bisschen was dazu – da muss man durch. Irgendwann zwischen Kilometer 90 und 100 flutscht es so richtig, man bekommt noch mal neue Energie und wundert sich, was denn vor einer halben Stunde los war. Das macht dann noch mal richtig Spaß.
Langsam kommt die lauschig-entspannte Abendstimmung hinzu. Mein heutiges Minimalziel ist Lüneburg, und als ich an der Kirche stehe und den davor feiernden Punks lausche, geht es mir so gut, dass ich beschließe, noch 15 Kilometer zu einem nahegelegenen Wohnwagenpark draufzulegen. In der Dämmerung erreiche ich die Wiese mit grandiosem Blick über die Felder. Es ist unglaublich still hier – perfekt, hier die Nacht zu verbringen. Heute habe ich einen kleinen Rekord geschafft: 167 Kilometer an einem Tag ist die zweitlängste Strecke, die ich bisher gemacht habe.
Die Nacht war kurz, aber gut, und es geht an den Schlussspurt nach Hause. Meiner Schwester habe ich 16 Uhr angesagt, das Garmin sagt mir bei einem Schnitt von 18 voraus, dass ich 14 Uhr da sein werde. Die Wahrheit wird irgendwo dazwischen liegen. Nach einem ausgiebigen Frühstück beim Bäcker (das gut war, aber auch gut teuer. Im Verhältnis finde ich nichts so teuer wie das Frühstück) beschließe ich, mich in Zukunft lieber komplett selbst zu versorgen.
Von der Heide sehe ich erstaunlich wenig, aber ich bekomme immerhin ein Glas original Heidehonig für Oma. Danach verlässt mich mein Glück: Es beginnt zu regnen. Naja. Immerhin ist es warm. Meine Entscheidung, auf die Regenhose und die Gamaschen zu verzichten, wird damit quittiert, dass ich mir mittags vor der Pommessbude literweise Wasser aus den Schuhen kippen kann. Einigermaßen trocken geht es weiter; der Regen lässt auch langsam nach. Es beginnt nun ein Effekt, den ich auch aus Berlin kenne: je besser meine Detailkenntnis der Strecke ist, je mehr Wegpunkte ich erkenne, desto mehr sehe ich, was noch vor mir liegt. Meistens finde ich es super, die Wegpunkte einfach „abzuhaken“, manchmal – so wie heute – bin ich ungeduldig und will ankommen. Es geht viel bergab, was mir und der Geschwindigkeit zugute kommt – und irgendwann bin ich da, genau um 15 Uhr.
Schön, dass du da bist. Schade, dass du sobald wieder los fährst. Allzeit Gute Fahrt.
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