Es ist ein wahnsinnig beschissenes Gefühl, wenn man nach draußen kommt, und dort, wo das Fahrrad eigentlich stehen soll, ist – nichts. „Ach naja, am falschen Ständer geguckt.“, denkt man noch und schaut sich um, während die Erkenntnis langsam schon real wird: „Dieses Mal ist es wirklich weg.“. Man schaut sich dann noch mal um, auch schon mal eine Kreuzung weiter, in den Hinterhof, noch mal an den Ständer, und dort bleibt – nichts.
Ich hatte einem Kollegen bei dessen Computer geholfen, und war auf die schönste Weise dafür belohnt worden, die man sich vorstellen kann: mir wurde einer der wenigen Gegenstände gestohlen, zu dem ich so etwas wie eine persönliche Beziehung hatte.

Diese Beziehung begann fast auf den Tag vor 10 Jahren, als ich beschloss, die ausgezahlten Überstunden und das zu erwartende Weihnachtsgeld am Nikolaustag 2007 in etwas Vernünftiges umzusetzen und in den nahegelegenen Gebrauchtfahrradladen ging – erstmal nur, um zu schauen, was denn überhaupt passen könnte. Ich entdeckte ein leicht abgerocktes, schwarzes Mountainbike, und als ich mich draufsetzte, wusste ich: Das ist es. Es passte perfekt; die Probefahrt habe ich dann nur noch pro forma gemacht, weil es ja doch eine substanzielle Investition war, und vielleicht würde sich ja während der Fahrt noch ein wesentlicher Nachteil ergeben. Tat er nicht.
Dies war das erste Fahrrad, bei dem ich von Anfang an das Gefühl hatte, nicht gegen das Material zu kämpfen, sondern mit ihm etwas Großes erreichen zu können. Wir passten zueinander, beide nicht perfekt, beide in gutem Gebrauchtzustand, beide mit deutlichen Spuren, aber: „(für Bastler)“ steht auf der Rechnung – man kann was draus machen.
Zwei Tage später riss dann die Kette.
„Na ja. Es stand ja drauf, dass man ein bisschen basteln müsste.“ – und davon hatte ich zu dem Zeitpunkt nicht besonders viel Ahnung. Aber das würde man ja lernen können, und es brauchte nur ein paar gerechtfertigte Anschisse der Bikedudes – fußläufig von der Arbeitsstelle zu erreichen – bis das Bewusstsein dafür wuchs, was für einen Juwel ich da wirklich in der Hand hatte. Juwelenhaft waren am Anfang nur die Preise für Ersatzteile, aber im Laufe der Zeit habe ich gelernt, gut und teuer zu differenzieren, und aus gut durch sorgfältige Pflege und richtige Justierung ein besser zu machen.
Eine damalige Mitschülerin aus der Berufsschulklasse fand meine Begeisterung amüsant und meinte, in ein paar Jahren würde ich das Rad eh austauschen und „maximal hängst du noch den Rahmen an die Wand, um dich zu erinnern.“
Das Fahrrad hat mich nicht nur zuverlässig zur Berufsschule und zurück gebracht, wir haben auch eine Menge erlebt. Mit meinen Arbeitskollegen haben wir zahlreiche Fahrten über Himmelfahrt gemacht, an Spree, Elbe und Weser entlang oder an die Ostsee – ab und zu mit Umweg über Dänemark. Ich saß auf dem Fahrrad, als ich im Radio das entscheidende Tor gegen Frankfurt gehört habe, das Werder den Klassenerhalt gesichert hat (und das letzte Spiel von Thomas Schaaf war). Es gab Momente in Berlin, da wusste das Fahrrad besser als ich, wie ich nach Hause komme – und ich bin sehr dankbar dafür.
Eines der absoluten Highlights unserer Beziehung war die Island-Tour. Dafür hatte ich ja das Fahrrad intensiv umgebaut und war mir nicht vollends sicher, dass es – oder ich – die Herausforderung bestehen würden, doch das Rad hat sich als sehr, sehr zuverlässig und hart im Nehmen erwiesen – so sehr, dass es mich zwei Jahre später in Australien tatsächlich getröstet hat, als ich eine sehr unschöne Situation erlebt habe und mir dachte: „Das schaffst du schon, das Rad und ich, wir haben schon Schlimmeres überstanden.“

Ich war schon völlig verkatert in Brandenburg, bin bei Sturm über einen isländischen Pass gefahren, bei Platzregen komplett durchnässt durch Berlin geschippert, auf dem Land einem Wildschwein begegnet. Bei Schnee und Eis habe ich mich auch schon mal lang gelegt, nach dem Bouldern zu lenken oder bremsen fiel manchmal schwer, und der Gepäckträger eignet sich sogar als Sozius. Stunden habe ich in den offenen Werkstätten in Berlin verbracht; inzwischen hatte ich jedes Teil des Rades mindestens in der Hand oder ausgetauscht. Ich weiß nicht, wie oft ich am Ende einer solchen Aktion unterzuckert und hungrig war, weil ich währenddessen einfach die Zeit vergessen habe.
Vergessen habe ich auch, es anzuschließen -ein einziges Mal- an einem Morgen, als in Berlin über Nacht 15cm Schnee gefallen sind, was spaßig und anstrengend war. In der Uni angekommen, entdeckte ich gegen Ende des Seminars, dass mein Fahrradschloss noch im Rucksack war – an den Schrecken erinnere ich mich so lebhaft, dass ich bis heute gestern immer geschaut habe, ob das Schloss wirklich einen Ring um Rad und Bügel/Baum/Laterne macht.

Ich habe mich oft dabei ertappt, wie ich das Fahrrad nach mehrtägigen Abwesenheiten (Weihnachten, Ostern) begrüßt habe wie einen alten Freund. Und bis auf diese Zeiten (ich habe es genauso häufig mitgenommen, wie Zuhause im Keller stehen gelassen) gab es keine zwei aufeinanderfolgenden Tage, wo ich nicht mindestens eine Mini-Runde gedreht habe.
Meinen namenlosen Freund habe ich (im Sommer mehr, im Winter weniger) gepflegt, umgebaut und auch erweitert; es wurde vor dem Flug nach Australien einmal ordentlich in der Security durchgeröntgt, und zu gerne hätte ich den Screenshot davon behalten – durfte ich aber nicht. Es überhaupt mitnehmen zu können, war ein langer Streit mit Air Berlin – umso erleichterter war ich, als ich es in Australien wohlbehalten auspacken konnte.
In Australien allein unterwegs zu sein, ging auch deswegen, weil ich wusste, dass das Fahrrad absolut zuverlässig ist. Geduldig und leidensfähig hat es alles mitgemacht. Ich wurde dafür ausgelacht, es einen Tag vor der Tour auf Hochglanz geputzt zu haben, bei den australischen Pisten würde es eh sofort wieder dreckig werden.
Es sind Erinnerungen wie diese, die den größten Teil des Wertes dieses Fahrrades ausmachen. Ein ebenfalls großer Teil besteht in der Bewegungsfreiheit, die ich dadurch gewonnen habe. Es war nicht nur ein Gegenstand, es war eine Erweiterung meines Körpers, so sehr, dass ich mich oft schon im Hausflur drauf gesetzt habe und erst abgestiegen bin, wenn es quasi schon angeschlossen war. Auto fahre ich sehr gerne und es macht Spaß, aber Radfahren ist für mich keine Wahl eines Verkehrsmittels, es ist Lebenseinstellung, Sport, Spaß, Notwendigkeit.
Und jetzt habe ich nicht einmal mehr einen Rahmen, um mich zu erinnern.
Kommentar? Gerne!