Elaine und der Spiegellampenschirm

Die Kugel leuchtet von innen heraus, während Elaine sich in zigfacher Spiegelung sieht und völlig hingerissen ist. Sie schaut sich die Kugel genauer an, die aus zahlreichen Spiegelsteinen besteht, jeder für sich etwa 1cm mal 1cm groß. Die Kugel wirkt wie eine normale Spiegelkugel, nur dass eben im Inneren eine Lampe steckt. Und man würde überhaupt nichts vom Licht sehen, würde es nicht genau an den Fugen von den Spiegeln gebrochen werden – und so wirkt es, als leuchtete die Kugel von innen heraus, während sie auf der Oberfläche dunkel ist. Und mit den Spiegeln ist es ähnlich: sie leuchten nur an den Kanten, an denen das Licht sich bricht.

So ein Ding baue ich mir für zuhause, denkt Elaine sich, während sie an ihrem Bier nippt. Ihr gefällt der scheinbare Widerspruch aus dem inneren Leuchten und der äusseren Dunkelheit. Ohne Schatten kein Licht, das hatte ein befreundeter Lichttechniker mal anhand der Lichtshow eines Konzertes erklärt. Ohne Schatten kein Licht, und das Licht muss sich irgendwo brechen oder reflektieren. Es braucht ein Medium, damit man es sieht.

So wie mit den Spiegeln, und sie findet den Gedanken lustig, dass die Kanten der Spiegel leuchten, die Spiegel selber aber nicht.

Die Tresenfrau schaut Elaine ein wenig konsterniert an, entscheidet dann aber, dass das Bier noch voll genug ist und widmet sich wieder dem Gespräch ihrer Bekannten.

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Elaine geht verloren

Eines Tages verliere ich mich in mir selber, denkt Elaine, und niemand wird mich finden können.

Vielleicht werde ich genau hier sitzen, vielleicht woanders, und man wird denken, ich sei tot oder im Koma, und dabei werde ich mich nur in mir selber verloren haben und nicht mehr wissen, wie ich aus mir herauskomme.

Ganz ruhig sitzt sie da, am Kanalufer, eine eiskalte Fritz Kola trinkend, während um sie herum emsige Betriebsamkeit herrscht. Jogger laufen am Kanal entlang, und das schnelle Trapp-Trapp-Trapp ihrer Schritte formt mit dem gemächlicheren, langgezogenen Knirschen der Spaziergänger einen komplexen, vielschichtigen Rhythmus.

Jemand spielt Gitarre zu diesem Rhythmus, sich unbewusst an die Geschwindigkeit dieses Augenblicks anpassend, so wie alle, die an diesem Moment teilhaben, seinen Atem teilen.

Dabei müsste mich nur jemand suchen kommen. Es ist nicht schwer, jeder kann das.

Sie schaut auf die Wasseroberfläche, die im Licht der untergehenden Sonne überall dort golden schimmert, wo sie unregelmäßig ist.

Es sind die Unregelmäßigkeiten, auf die man achten muss. An den Stellen, wo das Licht sich bricht, kann man gefunden werden.

Es ist mild-warm, doch ein kalter Windstoß macht Elaine eine Gänsehaut. Sie beobachtet, wie die bereits leicht gebräunte Haut sich kräuselt, die Haare sich aufstellen. Dort, wo die Haare aus der Haut stoßen, wird sie heller.

Sie schaut ihren Arm herunter, bis zum Handgelenk. Sie mag die Stelle, an der die Hand aus dem Gelenk entsteht, an der man die Sehnen sehen kann, wenn man die Finger bewegt, und manchmal auch die Adern.

Es ist wie mit dem Handgelenk. Dort wo die Sehnen aus dem Arm kommen, muss man anfangen zu suchen.

Sie stellt sich vor, sie sei unter Wasser, dort vorn im Kanal, wo sich gerade in einem kleinen Wirbel das Licht tausendfach verfängt. Sie würde den Wirbel von unten beobachten, ein winziges Universum in dieser riesigen Wasserwelt. Sie stellt sich vor, dass in diesem winzigen Universum Abertausende von Welten existieren, mit unzähligen Lebewesen, und irgendwo ist ein Lebewesen, das in diesem Augenblick aus seiner Welt nach oben schaut, zu ihr.

Und in diesem einen Augenblick, in diesem Moment, kürzer als ein Herzschlag, haben wir uns gefunden. Dabei haben wir uns nicht einmal gesucht.

Was denkt dieses Wesen aus dem Wasserstrudel? Was weiß es über seine Welt, was über die Welt ausserhalb des Strudels?

Elaine hat ihn verfolgt, bis sie ihn nicht mehr erkennen konnte, und langsam taucht sie wieder auf. Es ist dämmerig geworden, und frisch. Sie hört wieder den Gitarrenspieler, den Rhythmus der Jogger und Spaziergänger auf dem Schlackeweg; Wortfetzen dringen an ihr Ohr. Der Rhythmus, dem noch eben alles folgte, hat sich aufgelöst in ein verwirrendes Durcheinander von Tempi.

Die Cola ist inzwischen leergenippt. Elaine steht auf und geht nach Hause.

Eines Tages verliere ich mich in mir selber, denkt Elaine, und niemand wird mich finden können.

Elaine und das Treffen in der Kneipe

Ich kam grad aus der Toilette wieder – da stand sie plötzlich vor mir.

Meine Kommilitonen und ich waren nach der (vorerst) letzten Klausur noch einen trinken gegangen, die Stimmung war ausgelassen und heiter, die Kneipe insgesamt freundlich – kurzum: es war ein guter Abend.

Und plötzlich stand sie vor mir im Gang. Sie sah noch besser aus, als ich sie mir vorgestellt habe, denn logischerweise hatte ich sie noch nie gesehen: Elaine.

Sie lächelte mich an und meinte etwas unsicher, aber entschlossen: „Hallo.“
Ich war noch immer ein wenig perplex und brachte nur ein „Jo. Moin. Äh…“ heraus.
Und dachte: „Das Bockbier ist wohl doch stärker, als ich dachte…“ – als sie zu kichern begann.
„Kannst du meine Gedanken lesen?“ fragte ich sie, und sie sagte: „Ich BIN einer deiner Gedanken, schon vergessen? Und ja, das Bier hilft dir oft, deine Phantasie in Schwung zu bringen. So gesehen hast du Recht.“

„Ich habe gerade an dein Erlebnis mit dem Zaubertrick gedacht, weißt du noch?“

Elaine lächelte: „Natürlich. Das war ein schöner Tag.“

„Es war schön, ihn zu schreiben. Und zu wissen, dass du ihn so erleben würdest.“

„Danke. Aber weißt du, manchmal würde ich gerne mehr erleben. Manchmal würde ich gerne mehr leben. Ich meine, es ist nett, dass du immer die besonderen Momente schreibst, aber was mache ich an all den anderen Tagen?“

Ich dachte nach.Tatsächlich war Elaine für mich bisher nie ein Mensch gewesen, der sich mit den Alltagsnöten herumschlagen musste, die ich z.B. erlebe – oder jeder andere Mensch, den ich kenne.
„Hmm. Ich nehme an, du lebst einfach ganz normal. Gehst weg, bleibst zuhause, triffst Menschen, so Sachen eben. Ich schätze, im Großen und Ganzen bist du sehr viel besser als ich darin, dein Leben zu genießen.“

Sie lächelte ein bisschen. „Ist ja auch nicht schwer, wenn man nur die guten Sachen erlebt.“

„Trotzdem hast du einen Blick auf das Leben, den ich immer mehr verlerne.“

„Deswegen gibt es mich doch, oder?“

„Ja, vielleicht schon. Und vielleicht verlernst du diesen Blick auch, wenn du andere Dinge erlebst. Hast du Lust auf Steuererklärungen? Oder darauf, dass deine Krankenkasse dich nervt, weil sie irgendwelche bescheuerten Dinge von dir wollen?“

„Vielleicht. Ich habs ja noch nie erlebt.“ meinte sie trotzig. „Ich meine, du bist jetzt hier in der Kneipe und hast dich mit mir getroffen, das heißt, dass der Moment jetzt für dich auch speziell ist – und dieser Blick auf die Dinge ein anderer ist, als noch vor ein paar Tagen, als du gelernt hast.“

„Das stimmt. Ich vermisse dich in solchen Zeiten. Ich weiß nicht, wo du bist oder was du machst, und das finde ich dann schade.“

„So lange du mich nicht vergisst, ist doch alles gut. Immerhin bist du so nett, die besonderen Momente zu schreiben, das ist doch auch schon gut. Aber ich glaube, deine Freunde warten langsam.“

Elaine verschwand langsam. Sie winkte, und ich konnte durch ihre blasser werdende Hand hindurch schauen. Doch ich hatte so ein Gefühl, als würde sie nicht so ganz gehen.

Ich ging wieder an den Tisch, trank und feierte mit den Anderen. Und gänzlich unbemerkt von ihnen wechselte mein Taschentuch, jedes Mal, wenn ich es herauszog, seine Farbe.

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